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Rundbrief August 2015

Gefangenschaft und Freiheit

Margarethe Randow-Tesch

»Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden,/ dass er nichts mehr hält./ Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe/ und hinter tausend Stäben keine Welt.« So stellt Rainer Maria Rilke in einem Gedicht aus dem Jahre 1902 das Dahinvegetieren eines Panthers in einem Tiergarten dar, und in der nächsten Strophe beschreibt er das Elend der Gefangenschaft als »Tanz von Kraft um eine Mitte«, »in der betäubt ein großer Wille steht.« Es drängt sich geradezu auf, diese Bilder auf das menschliche Dasein zu übertragen und Parallelen zu den Aussagen des Kurses über das Ego zu ziehen.

Jeder hat irgendwann einmal im Leben den Wunsch verspürt, aus einer unerträglichen Situation auszubrechen. Wir kennen Unfreiheit in vielfältigsten Formen: als Konventionen, Erwartungen, als politische und gesellschaftliche Kontrolle, soziale, berufliche oder familiäre Zwänge, als psychisches Leiden oder massive körperliche Einschränkungen. Meist erleben wir bestimmte Aspekte unseres Lebens als unfrei und würden sie gern ändern. Doch vermutlich würden nur wenige Menschen so weit gehen, ihr Leben in der Welt, unabhängig von äußeren Gegebenheiten, als Maskierung einer inneren Gefangenschaft zu betrachten, als ein den immer gleichen elenden Gedanken verpflichtetes Hamsterrad, in dessen Mitte »betäubt ein großer Wille steht«. Was ist dieser Wille? Nicht Launenhaftigkeit oder Dominanz, sondern tiefer Frieden und Akzeptanz, geboren aus einem Selbst jenseits aller Worte und Konzepte, eher flüchtig erahnt, als sicher gewusst, in dem das Herz endlich Ruhe findet: »O mein Kind, wenn du erkennen würdest, was Gott für dich will, wäre deine Freude vollkommen!« (T-11.III.3:1).

Die Befreiung des Willens ist demnach der größten Bemühung wert. Das ist im Kurs mit Vergebung gemeint, und darin ist die Vergebung für alle und jeden Umstand enthalten. Dieser fundamentale Perspektivwechsel im Hinblick auf den Sinn des Lebens charakterisiert die Arbeit mit dem Kurs. Es ist kein Kurs in der Veränderung der äußeren Umstände (auch wenn Veränderungen nicht ausgeschlossen sind), sondern der Ursache: dem Tanz um das enge, kümmerliche Ersatz-Selbst, im Kurs Ego genannt, dessen Forderungen wir in unserem blinden Schmerz versuchen, möglichst gut zu erfüllen. Eine solche Bedürfnisbefriedigung geschieht immer auf Kosten bzw. unter Missachtung anderer. Beziehungen, die der Aufrechterhaltung dieses Selbstkonzepts dienen, können naturgemäß nicht glücklich sein. Es sind »besondere Beziehungen«, wie sie im Kurs genannt werden, in denen die Beteiligten »versuchen, einander gegenseitig zu erreichen, und sie versagen, und versagen immer wieder. So passen sie sich an die Einsamkeit an… « (T-21.I.5:3-4). Doch ebendiese Beziehungen können dem Prozess der Befreiung dienen, wenn wir uns stets daran erinnern, dass allein unser Geist die Macht hat, unseren inneren Zustand zu wählen – Mangel oder Liebe – und damit auch unsere Sicht von der Welt und anderen.

Gleich am Anfang des Kurses wird die Macht des Geistes betont (T-2.VII.9), denn ohne dieses Verständnis bleibt Vergebung ein leeres Wort. Der Geist erschafft in jedem Augenblick. Wenn er »fehl-erschafft«, sich also scheinbar aus der Sicherheit der Liebe entfernt, setzt er sich in Illusionen gefangen, die Angst, genauer gesagt, Terror und Schuld erzeugen. Ein gefangener Geist träumt von einem kleinen privaten Selbst, das er glaubt, dem Ganzen entrissen zu haben, und mehr schätzt als die Liebe und Unschuld seines mit allen anderen Wesen geteilten Seins: »Ein ›gefangener‹ Geist ist deshalb nicht frei, weil er von sich selbst besessen ist oder sich selbst behindert« (T-3:II.4:3). Der mit dieser Egozentrik einhergehende Entzug ist die Basis des deprimierenden Selbstbilds von uns allen, die wir den Traum der Welt träumen. Und die Verantwortung für das Gefühl des Entzugs projizieren wir auf die Figuren in unserem Traum. Uns die Liebe vorzuenthalten oder vorenthalten zu haben, die wir verdienen, ist exakt das, was wir anderen vorwerfen.

Das ist das Egodenksystem: ein Schlaf des Geistes, dessen dunkler Schatten der Anklage und Selbstanklage über der daraus gemachten Welt und allen Figuren und ihren besonderen Beziehungen zueinander liegt. Solange es nicht aufrichtig, aber ohne Angst angeschaut wird, wird die unterschwellige Selbstverurteilung weiter projiziert und macht Beziehungen in der Welt schwankend, irrational, zuweilen sogar explosiv und zu willkommenen Verstärkern des Glaubens an Angst, Schuld und Entzug: »Ein gefangener Wille verursacht eine Situation, die im Extremfall überhaupt nicht mehr aushaltbar wird« (T-2.III.3:4) heißt es am Anfang des Textbuchs über das in diesem System erzeugte Leiden. Doch wozu darin bleiben? Der Wunsch zu leiden ist unnatürlich und hat daher eine Grenze. Im Kurs steht die tröstliche Aussage: »Der Heilige Geist kann mit einem unwilligen Schüler umgehen, ohne sich seinem Geist entgegenzustellen, weil ein Teil davon noch immer für Gott ist. Trotz der Bemühungen des Ego, diesen Teil zu verbergen, ist er nach wie vor viel stärker als das Ego, obschon das Ego ihn nicht sieht« (T-5.III.3.10:3-4).

Die Wahrheit ist, dass das Leben dem Ziel dient, das wir ihm geben. Die Tür zur Freiheit steht jedem offen, der sich aufrichtig befreien will (T-11.IV.6:3). Aber ebenso sicher ist, »dass Gefangene nicht voll Freude aufspringen im Augenblick, in dem sie freigelassen werden. Es dauert eine Weile, bis sie verstehen, was Freiheit ist« (T-20.III.9:1-2). Freiheit heißt, einen jeden mit den Augen der Freiheit sehen zu wollen: ohne Anklage, als gleichen Teil ein und desselben Geistes. Das ist definitiv das Ende der Besonderheit, und es ist definitiv ein Prozess. Im Alltag sind Geduld und das Vertrauen, dass alle Beziehungen der Heilung unseres Geistes von seinen Illusionen dienen, ein wichtiger Aspekt des Vergebungsweges: »Die Wahrheit wird nur durch einen zu uns kommen, der unseren Traum der Krankheit zu teilen scheint. Wir wollen ihm helfen, sich selbst all die Schuld zu vergeben, für die er sich ohne Ursache verurteilt. Seine Heilung ist unsere eigene« (P-2.V.7:5-7). Der Kurs lehrt, dass Vergebung das einzige echte Bedürfnis ist, das wir haben. Sie zeigt sich in der Bereitwilligkeit, mit unseren Beziehungen hier geduldig zu lernen, aber dies ist in Wirklichkeit nur die Spiegelung einer weitaus größeren Entscheidung des Geistes, frei werden zu wollen und die liebevolle Vergebung für seine eigenen Irrtümer anzunehmen. Mit der Weisheit, die dadurch frei wird, blicken wir ruhig über das Verhalten und die Welt hinaus zum Schmerz in unserem und in einem jeden Geist und treten dann beiseite, um die Antwort in der Form geschehen zu lassen.

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